Dienstreise

Eine Kurzgeschichte von Sun Lianlian

Um 1 Uhr in der Nacht war Hanna gerade im Hotelzimmer angekommen, nur mit einer Aktentasche und einem Laptop. Die verdammte deutsche Bahn hatte wieder einmal Verspätung und diesmal waren es drei Stunden, aus wer weiß was für einem Grund. Man sagt immer, es ist einfacher zu akzeptieren, wenn etwas im Fall höherer Gewalt schiefläuft. Hanna hielt dies für bloßen Quatsch. Es wird nie leichter, sich so etwas auszusetzen und diese blöde Sachen auch noch normal zu finden im Leben. Ganz im Gegenteil wird man unsicherer in solchen machtlosen Situationen.

Das Hotelzimmer war nicht groß, aber befand sich im 15. Stock. Sie war Personalmanagerin und seit langem hatte sie kein besseres Hotelzimmer auf der Dienstreise bezogen wie dieses. Vom Fenster konnte Hanna aber die gegenüberliegenden Gebäude sehen, auf deren enormen LED-Leinwänden die Werbung für ICBC und Mercedes andauernd liefen. Im schwarzen Himmel schienen kein Mond und keine Sterne, während künstliche Lichter im Gebäude und an der Straße alles noch etwas hell machten.

Es war halb zwei. Hanna schaltete den Laptop an, um die Sitzung am nächsten Vormittag vorzubereiten. Sie blieb in dieser Stadt nur für einen Tag, morgen Abend fuhr sie schon wieder zurück. Dieses Jahr hatte das Unternehmen viele neue MitarbeiterInnen und PraktikantInnen angestellt. So viele neue und ungeschickte AnfängerInnen machten ihr viel zu schaffen. Sie musste die PowerPoint des Vortrags im Detail verändern und verschönern und die Buchführungsunterlagen hatten so offenkundige Fehler, dass selbst sie als Personalmanagerin diese erkennen konnte. Die Zahlen passten nicht zusammen und sie hatte gar keine Zeit mehr, sie an den Buchhalter zurückzuschicken und korrigieren zu lassen. Die Fehler selbst zu korrigieren, war ihr unmöglich.

Eigentlich hatte sie schon lange überlegt, zu kündigen und einen neuen Job in einer kleinen Stadt zu finden. Bisher hatte sie bereits zehn Jahre im Chemie-Konzern gearbeitet. Zehn Jahre vergehen sehr schnell. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie nach dem Studium anstreben wollte. Eine gute Karriere, sicher, aber es war bestimmt noch etwas, was sie anstreben wollte, etwas wichtigeres und sinnvolleres, als eine hochbezahlte Arbeitsstelle in einem großen Unternehmen. Jetzt wollte sie nur in einer kleinen Stadt wohnen und in einer Firma mit weniger Stress und Konkurrenz arbeiten.

In solch einer tiefen und einsamen Nacht hatte Hanna vieles im Kopf. Auf einmal fühlte sie auf unerklärliche Weise mutig und kräftig, das umzusetzen, worüber sie schon so lange nachdachte, aber es nicht wagte. Sie öffnete eine leere Word-Datei und fing an, eine Kündigung zu schreiben. Beim Schreiben wurde sie immer unsicherer. Sie hatte nie zuvor eine Kündigung geschrieben. Sie wusste nicht, wie man eine Kündigung schreibt und was genau eine Kündigung bedeutete. Sie hatte den Eindruck, dass Kündigung mehr heißt, als eine Arbeitsstelle zu verlassen. Sie war sich nicht sicher, welche Konsequenzen die Kündigung mit sich bringen würde. Allein das Schreiben der Kündigung jagte Hanna große Angst ein.

Ihr Mut und ihre Entschlossenheit, wie zu Beginn des Anschreibens, gingen ihr nach und nach verloren. Kann ich nochmal einen so guten Job oder überhaupt einen Job finden? Wie soll ich meiner Mutter mitteilen, dass ich kündige? Soll ich in meine Heimat zurückkehren, wo ich seit 15 Jahren nicht mehr wohne? Kann ich mich in einem neuen Unternehmen zurechtfinden, wenn ich dort einen Job finde?

So viele Fragen tauchten in Hannas Kopf auf, dass sie nicht mehr schreiben konnte. Sie musste Pause machen und nochmal nachdenken. Hanna stand auf und ging zur Küchenzeile ihres Zimmers, um Kaffee zu kochen. Es war eine längere Nacht geworden, als sie gedacht hatte. Ohne Kaffee konnte sie es nicht aushalten. Bald roch das ganze Zimmer nach dem intensiven Duft des Kaffees. Mit dem warmen Kaffee im Magen entspannte sich Hanna allmählich. Doch konnte sie sich noch immer nicht entscheiden, ob sie sich für die Sitzung morgen vorbereiten oder die Kündigung schreiben sollte. Es schien, als ob sie an einer Kreuzung stände und sie sich nicht für einen Weg entscheiden konnte. Eine bekannte angepasste Hölle oder eine unbekannte neue Welt?

Hanna setzte sich wieder an den Schreibtisch vor dem Fenster und stellte die Kaffeetasse neben den Laptop. Die Werbungen auf der LED-Leinwand liefen noch. Sie starrte den Bildschirm des Laptops an und wusste nicht, was sie machen sollte. Sie dachte, ich brauche mehr Kaffee, um eine richtige Wahl zu treffen. Sie streckte die rechte Hand aus, um die Kaffeetasse zu greifen. Aber die Tasse stürzte um und Kaffee floss in die Lücken der Tastatur ihres Laptops. Der Bildschirm setzte sofort aus und wurde schwarz. Perfekt!

Hanna saß eine Weile vor dem schwarzen Bildschirm. Im Zimmer herrschte eine bedrückende Ruhe. Zumindest brauche ich jetzt keine Entscheidung zu treffen und habe nicht die Qual der Wahl, dachte Hanna. Es war zwei Uhr am frühen Morgen. Hanna ging ins Bett und konnte noch fünf Stunden schlafen.