Die Zugbegleiterin

Eine Kurzgeschichte von Chen Yuejun

Offiziell bin ich Zugbegleiterin. Jeden Tag fahre ich morgens von Nordchina nach Südchina, und abends fahre ich wieder zurück. Im Zug passiert normalerweise nichts Neues und Tag für Tag bleiben meine Aufgaben als Zugbegleiterin gleich, wie z.B. Fahrkarten kontrollieren, reinigen und der spannendste Teil – der Verkauf. Ich gehe mit einem kleinen Handwagen, darauf Snacks, Getränke oder auch Tagesmenüs, durch den ganzen Zug. Die große Lust des Verkaufens besteht darin, dass ich die Gelegenheit habe, die Passagiere zu beobachten. „Zugbeobachterin“ nenne ich mich. Das ist mein zweiter Beruf, ein Beruf, von dem außer mir niemand weiß und der mir viel Spaß bereitet.

Beim Verkaufen rufe ich die Namen der Waren aus, warte einige Sekunden, um die Leute zu beobachten, dann gehe ich weiter, und warte wieder… Die meisten Leute schauen auf ihre Handybildschirme, manche schlafen, manche essen, manche telefonieren, manche blicken aus dem Fenster und die anderen blicken irgendwohin. Es gibt Leute, die mir einen Blick zuwerfen, wenn ich vorbeigehe. Es gibt auch Leute, die vermeiden den Augenkontakt mit mir.

Beim Beobachten lerne ich die Passagiere durch ihre Gesichter, ihre Kleidung, ihre Gesten, ihre Stimme und ihren Geruch kennen. Ich bin so erfahren, dass ich meistens mit einem Blick wissen kann, was einer von Beruf ist. Aber manchmal gibt es auch Schwierigkeiten, dann muss man genug Phantasie und Kreativität haben. Jeden Tag lese ich beim Beobachten die Geschichte der Passagiere, aber meistens erschaffe ich selbst Geschichten über sie. Ich bin die invisible Beobachterin, die keinen interessiert.

Aber heute ist mir etwas ganz besonderes passiert. Als ich am Morgen wie gewohnt Kaffee verkaufte und Passagiere beobachtete, bemerkte ich, dass mich auch eine Passagierin beobachtete, die wie eine Studentin aussah. Sie beobachtete mich und schrieb etwas in ihr Heft. Darauf las ich den Titel: „Die Zugbegleiterin“ und vermutete, dass sie vielleicht die Schreibaufgabe hatte, etwas über diesen Beruf oder über das Thema „Arbeit“ zu schreiben.